Tweeten gegen die Stille

Julia Probst will als erste Gehörlose ins Parlament. Doch über ihre eigene Behinderung spricht die Piratin nicht.

Bevor die Piraten bereit sind, Julia Probst ihre Stimme zu geben, muss sie noch eine Frage beantworten. Probst steht auf der Bühne, neben ihr eine Dolmetscherin. »Kannst du uns die Gebärde für Flausch zeigen?«, will jemand aus dem Publikum wissen. »Flausch« ist kein politischer Ausdruck, sondern ein Begriff, mit dem die Netzwelt Lob ausspricht. Probst grinst. Dann knetet sie mit ihren Fingern die Luft, als halte sie eine weiche Kugel in den Händen. Der ganze Saal johlt.

Es ist ein Samstag im September, Parteitag der Piraten in Baden-Württemberg, an dessen Ende Julia Probst auf den dritten Listenplatz gewählt werden wird. Sie ist gehörlos, erfolgreiche Bloggerin und nun auch Kandidatin einer Partei, bei der sich jeder Neuling für das höchste Amt bewerben kann. Bei der die Follower auf Twitter oft auch die Wähler sind.

Sollten die Piraten bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr die Fünfprozenthürde schaffen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die 31-Jährige Deutschlands erste gehörlose Abgeordnete wird.

Probst spricht nicht ins Mikrofon, als sie um die Stimmen der Piraten wirbt. Sie hebt ihre Hände und zeichnet in die Luft. »Die meisten von euch kennen mich schon. Aus dem Internet«, sagt sie. Probst ist im Netz berühmt, auf Twitter folgen ihr 22.000 Menschen. Dort heißt sie »EinAugenschmaus«, liest fluchenden Fußballprofis von den Lippen ab und schreibt für mehr Barrierefreiheit.

»Ich habe Lust auf Politik, ich möchte etwas ändern können«, sagt Probst. Keine zehn Minuten, dann ist ihre Vorstellung vorbei. Die Anwesenden loben auf Twitter: »Tolle Rede!«, »Ich will dich auf jeden Fall im Bundestag sehen«, schreiben die Piraten. Die Begeisterung ist groß für diese Frau, die nach knapp vier Monaten Mitgliedschaft schon ein Aushängeschild der Partei geworden ist.

Wer Probsts Twitter-Feed folgt, glaubt schnell, sie einigermaßen gut zu kennen. Die 31-Jährige postet Bilder von ihrem »Hundebaby«, schreibt von einem Zahnarztbesuch oder klagt über Kopfschmerzen; manchmal twittert sie im Minutentakt. Den Regierungssprecher Steffen Seibert bat sie um Untertitel bei der Neujahrsansprache der Kanzlerin. Wo selbst Politiker nur einen Klick entfernt sind, kommt man sich schnell nahe. Im echten Leben ist das schwieriger.

Twiller ist eine Illusion

Die Dolmetscherin verspätet sich, Julia Probst sprudelt trotzdem nur so los. Ihre Stimme klingt hoch und monoton, die Wörter sind abgehackt. Plötzlich merkt man: Twitter ist eine Illusion. Online war ein Gespräch so einfach. Offline mündet es in peinlicher Stille. Wir warten auf die Dolmetscherin. Probst tippt auf ihrem Blackberry.

Als die Übersetzerin kommt, beginnt Probst zu erzählen, von sich und ihrem Engagement. Wie sie bei der EM twitterte, was die Fußballer auf dem Feld sprachen, und wie Tausende mitlasen. Wie sie Angela Merkel bei einer Veranstaltung tadelte, weil keine Gebärdensprachdolmetscher anwesend waren, bis diese versprach, sie im nächsten Jahr zu stellen. Und auch, wie Regierungssprecher Seibert sie auf der Netzkonferenz re:publica für ihren Einsatz und ihre Hartnäckigkeit lobte: Probst sei ein gelungenes Beispiel dafür, wie nützlich der Austausch per Twitter sein kann.

Früher musste Julia Probst ihre Mutter um Hilfe bitten, wenn sie Freunde anrufen oder einen Termin beim Arzt vereinbaren wollte. Dann kam das Internet, und plötzlich konnte die junge Frau chatten und E-Mails schreiben, mit wem sie wollte. Als sie sich 2009 bei Twitter anmeldete, erwähnte sie ihre Behinderung nicht – und niemand bemerkte etwas. Bis eines Tages ein heikles Thema zur Sprache kam: Dinge, die ihr von mir nicht wisst. Da schrieb Julia Probst, sie sei gehörlos. »Auf einmal kamen so viele Fragen«, sagt Probst. Ob sie Musik vermisse oder ob Gehörlose auch laut lachen. Aus den Fragen wurden Gespräche, aus Gesprächen wurde ein Blog. Probst erklärte den Hörenden ihre Welt. Ihre Behinderung, die ihr sonst vieles erschwert, machte sie nun interessant. Probst wurde zur Symbolfigur der Gehörlosen in Deutschland.

Im Gespräch redet sich Probst schnell in Rage. Sie lässt sich kaum stoppen in ihrer Empörung: darüber, dass Gehörlose bald Rundfunkgebühren zahlen müssen und im Fernsehen kaum Sendungen untertitelt sind. Dass sie nicht einmal die Feuerwehr rufen könnte, wenn es brennen sollte. »In Sachen Barrierefreiheit ist Deutschland ein Entwicklungsland«, ruft Probst fast. Wo merkt sie selbst die Barrieren im Alltag? Einen Moment lang ist es still. Dann sagt Probst: »Ich möchte mein Privatleben schützen.« Obwohl sie online über Gehörlosigkeit schreibt, ist sie offline darauf bedacht, ihrer Behinderung möglichst wenig Bedeutung beizumessen. Immer wieder betont sie, wie tough, wie gebildet, wie gut integriert sie sei. »Ich bin zwar von Geburt an gehörlos, aber ich fühle mich in der hörenden Welt zu Hause«, sagt sie.

Julia Probst in ein Paradox

Probst hat erkannt, dass ihr ein Paradox anhaftet: Dass sie über Gehörlosigkeit bloggt, hat ihr politische Bedeutung verliehen, ihr eine Aufgabe gegeben. Aber je mehr sie sich für Menschen mit Behinderung starkmacht, desto eher wird sie selbst als ein solcher wahrgenommen. Und »die gehörlose Julia« – das möchte Probst nicht sein.

Im Gespräch spart sie die Barrieren aus, die es in ihrem Leben sicherlich gibt. Und ignoriert die fragenden Blicke, wenn jemand sie nicht versteht. Auch darüber, wie viel Kraft sie das im täglichen Leben kostet, verliert Julia Probst kein Wort. Stattdessen lächelt sie und wiederholt das Gesagte. Gehörlose Menschen würden oft von der Gesellschaft ausgeschlossen, sagt Probst und lässt offen, ob sie damit auch sich selbst meint.

Sie hat ihre Aufgabe gefunden. Beim diesjährigen Tag der offenen Tür der Bundesregierung huscht sie durch die Räume: Wo ist ein Film nicht untertitelt? Und warum nicht? Unbefangen redet sie auf Mitarbeiter in den Ministerien ein, bahnt sich ihren Weg zu Politikern. Aus der privaten Twitter-Userin ist eine öffentliche Lobbyistin geworden.

Sie passt Angela Merkel nach deren Rede im Bundeskanzleramt ab. Probst will sich bedanken: Die Kanzlerin hat ihr Versprechen gehalten und ihren Auftritt in Gebärdensprache übersetzen lassen. Probst spricht ohne Dolmetscher – langsam, deutlich –, und Angela Merkel versteht sie. Ein Fotograf lichtet die beiden ab.

Kategorien:Die Zeit, Portrait

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