Geh mit Gott

Der „Jesus Trail“ führt auf den Spuren des Gottessohns durch Israel. Unterwegs von Nazareth bis zum See Genezareth begegnet man christlichen Pilgern, jüdischen Kibbuz-Bewohnern und arabischer Gastfreundschaft.

Heiliges Land – das heißt, dass es in Israel keinen Stein gibt, der nicht von jemandem aus der Bibel berührt wurde, kein Wasser, das nicht irgendeiner gesegnet hat. Nicht zu vergessen die Strecke zwischen Nazareth und Kafarnaum in Galiläa. Diesen Weg soll vor rund 2000 Jahren Jesus entlanggeschritten sein. Jetzt wollen wir ihn gehen, und zwar auf dem sogenannten „Jesus Trail“.

Die Reise beginnt in Nazareth, der Stadt, aus der Jesu Familie kam. Doch im Hier und Heute weht nicht nur der Heilige Geist der Christen, sondern man trifft auch das moderne Israel, das bunter kaum sein könnte. Wenn der Muezzin ruft, ist es Zeit zum Aufstehen. Wenn die Glocken läuten, ist es Zeit zu gehen. Willkommen im Heiligen Land.

Auf den Platz unter der Verkündigungsbasilika in Nazareth, wo der Erzengel Gabriel Maria erschienen sein soll, leuchtet die Morgensonne. Muslime beugen sich zum Gebet. Etwas höher in der Altstadt, an einem ehemaligen Herrenhaus, sammelt sich unsere Pilgergruppe. Vier Finnen in akkurater Wanderkleidung, die Bibel im Gepäck. Ein russisches Ehepaar, er Physiker, sie Landschaftsgärtnerin, erfahren im Wandern, aber sowjetisch gottlos. Eine quirlige Kanadierin, die den Pilgerweg zum zweiten Mal läuft. Und ein amerikanischer Professor, der sich mehr für römische Ruinen interessiert als für Jesu Wirkungsstätten.

Schon am Anfang hatten sie einander beäugt: Wer ist wegen Gott hier – und wer nur wegen der schönen Landschaft? Am Ende der Reise werden sich die Jünger über den Duft von Orangenblüten gefreut haben. Und selbst die hartgesottensten Atheisten werden mehr gefunden haben als nur Fotomotive.

Auf dem Hügel schlängelt sich die Altstadt, Treppenstufen führen hinauf. Wer die vierhundertste erklommen hat und sich umschaut, blickt über die Stadt. Im Norden, hinter Feldern und Bergen, ist unser Ziel: der See Genezareth, wo Petrus und Johannes als Fischer ihr Geld verdienten, bevor sie Jesus zu Menschenfischern berief.

Wir sind auf dem Weg nach Kana, der ersten Station der Reise. Die Region Galiläa, die den Norden Israels umfasst, ist der fruchtbarste Teil des Landes. Auf den Feldern wiegen sich Roggen und Gerste im Wind, am Straßenrand wachsen wilder Senf und Kaktusfeigen. Die Wolken werfen schattige Flecken auf die Landschaft, doch wo wir gehen, ist fast immer das Licht.

Aber wo ist Jesus? Mal geht es über Schotter und Asphalt, mal marschiert man querfeldein. Die Gedanken ziehen vorbei, die Landschaft ebenso. Auf einen Hinweis auf Jesus aber hofft man vergeblich, keine Tafel, keine Inschrift. Ob Jesus exakt diesen Weg vor 2000 Jahren tatsächlich gegangen ist, ist ohnehin umstritten. Der Überlieferung nach verließ er zwar Nazareth, um in Kafarnaum zu leben. Doch GPS-Daten hat Gottes Sohn natürlich nicht hinterlassen.

Die Finnen stört das nicht. Sie kamen, weil die Region ihnen „mehr bedeutet als nur Natur“. Die Frauen sind verzückt vom Anblick der endlosen Blumenfelder. Immer wieder werden sie in den nächsten Tagen anhalten, um aus dem Evangelium zu lesen. „In Finnland ist es ungewöhnlich, dass man religiös ist“, sagen sie. In Israel wundert sich hingegen niemand über einen Bibelvers zu Mittag.

Das russische Ehepaar wandelt zwar auf Jesu Wegen, beten wollen die beiden aber nicht. Sie wanderten einfach gerne, erzählt das Paar. Und von Nazareth nach Kafarnaum sind es nur 65 Kilometer – einer der kürzesten Wanderwege im Heiligen Land. Danach werden sie nach Haifa und ans Tote Meer reisen. „Mit irgendwas muss man ja anfangen“, sagt die Russin.

Der Weg führt über Wiesen und Felder, durch Nationalparks und vorbei an römischen Pflasterstraßen. Es geht durch arabische Dörfer, wo verschleierte Frauen die Kinder zum Essen rufen. Dann vorbei an Müllbergen, die die Wanderer beschämen. Und irgendwann hört man ihn wieder, den Muezzin. In Kana, dem ersten Halt, folgt das Läuten der Kirche. Erst der Muezzin, dann die Glocken.

„Kana“, wo Jesus Wasser zu Wein verwandelt haben soll, sein erstes Wunder, ist eine kleine arabische Stadt. Die Souvenirshops verkaufen sündteuren Granatapfelwein und Rosenkränze. Bei Familie Bellan ist die erste Herberge des „Jesus Trail“. Eine Privatwohnung, in den Gästezimmern lebten früher die acht Kinder von Suad und Sami Bellan. Seit sie aus dem Haus sind, schlafen dort Pilger.

Suad Bellan, eine christliche Palästinenserin, kocht Lammeintopf, deckt den Tisch. Und wenn alle gemeinsam beim Essen sitzen – Finnen, Russen, eine Kanadierin, eine Gruppe rüstiger Japaner -, sind die müden Beine schnell vergessen. Mit Händen und Füßen unterhält sich die Gemeinschaft, isst gemeinsam Brot und spricht über die Erfahrungen des letzten Tages. Eine Gemeinschaft, die ihr Brot teilt – an diesem Esstisch ist mehr Spiritualität als in mancher Kirche.

Die Kanadierin verteilt Anstecknadeln mit ihrer Nationalflagge, die Japaner verbeugen sich nach jedem Wort, obwohl sie offenbar kaum etwas verstehen. Jeder lacht über jeden – aber vor allem miteinander. „So muss es sein“, sagt Suad Bellan. „Es geht nicht nur darum, zu pilgern. Es geht um Freundschaft.“ Und so ist es auch freundschaftlich gemeint, als eine japanische Greisin sich nach dem Abendessen verabschiedet: „See you in heaven!“

Religion hin oder her: Solch ein Abend wäre bestimmt im Sinne Jesu gewesen. Das interkulturelle Abendmahl und die arabische Gastfreundschaft waren nur der Anfang. Zweiter Tag, auf dem Weg nach Kafarnaum stoppen wir in einem religiösen Kibbuz. Das Schwimmbad trennt Männer und Frauen, neben den Frühstückszeiten sind die Gebetszeiten aufgeführt. Im Speisesaal sitzen orthodoxe Juden neben den christlichen Jüngern.

Beim Abendessen kann eine Finnin allerdings nicht an sich halten: Wie gerne würde sie die Juden überzeugen, dass sie den Messias verpasst haben! Sie lässt es, und alle in der Gruppe sind ihr dankbar dafür. Kein Grund, den Komfort im Kibbuz nicht noch einen weiteren Tag zu genießen: Die finnische Gruppe macht Pause vom Pilgern. Die Erleuchtung kann noch einen Tag warten.

Wir wandern weiter. Am dritten Tag prallen die Kulturen endgültig aufeinander. Hinter den „Hörnern von Hittim“, einem geschwungenen Hügel, wo im 12. Jahrhundert Kreuzfahrer gegen Muslime kämpften, parken israelische Militärfahrzeuge am Wegesrand. Am historischen Kriegsschauplatz weiden Kühe, nur wenige Kilometer weiter ist militärisches Sperrgebiet. Wir gehen vorbei an Panzerkolonnen und Armeezelten. Die Reservisten starren gelangweilt in die Luft, der gute Pilger teilt mit jedem seinen Proviant. „Wollt ihr vielleicht ein paar Nüsse?“, fragt die Kanadierin. „Nein danke“, rufen die Soldaten zurück. „Aber habt ihr Lust auf eine Fahrt mit dem Panzer?“

Wir passieren Nebi Schueib, einen moscheeartigen Bau und ein Heiligtum der Drusen. Dort, wo sich sonst Gläubige vor dem Gebet waschen, füllen wir unsere Wasserflaschen auf. Wenige Kilometer weiter stoßen wir auf die Überreste eines arabischen Dorfes, das beim Unabhängigkeitskrieg 1948 zerstört wurde. Das Minarett steht noch – der Rest ist überwuchert.

Wir übernachten im Gasthaus der Familie Shavit, einem Ehepaar, deren Eltern den Holocaust überlebt haben. Im Garten Orangen und Mangos, Granatäpfel und Mandarinen. Sara Shavit, die Wirtin, hat sie selbst gepflanzt. Die 66 Jahre alte Dame kümmert sich wie eine Mutter um ihre Gäste. In ihrem Familiensinn, denkt man, sind sich Juden und Palästinenser nicht unähnlich.

Wir erklimmen Berge, rasten unter Eukalyptusbäumen, suchen zwischen Ruinen nach dem richtigen Pfad. Immer wieder taucht Jesus unvermittelt in den Gesprächen auf. Manchmal ernst und besinnlich, auf Aussichtspunkten etwa, wo der Blick so weit reicht, dass der Horizont verschwimmt. Manchmal scherzhaft: dass wir diesen Bach überquert haben – ein echtes Wunder! Oder: Hätte Jesus auf diesem beschwerlichen Weg nicht einen Fahrstuhl erschaffen können? Solche Anekdoten nehmen dem Marsch die Anspannung; gemeinsam lachen zu können schweißt zusammen. „Danke, Jesus!“, möchte man sagen.

Die letzte Etappe ist die anstrengendste: Fast 400 Meter ist der Berg Arbel hoch. Von oben dann der Blick auf den See Genezareth. Tiefblaues Wasser, dahinter die Golanhöhen. In der Ferne der Berg Hermon, Israels höchster Gipfel, auf dem noch Schnee liegt. Der Abstieg ist steil, jeder Handgriff am Fels muss sitzen. Als wir im Tal sind, hallt der Ruf des Muezzins durch die Berge.

Im Schlusssprint marschieren wir durch Bananenplantagen und Olivenfelder. Vor Kafarnaum liegt der Berg der Seligpreisung, an dem Jesus die Bergpredigt hielt. Heller Stein, ein akkurater Palmgarten. An allen Ecken lesen Touristen aus der Bibel, Gesänge dringen durch den Park. Selbst die russischen Eheleute werden an diesem Ort still. „Es ist einer der wenigen Orte, die unbestritten sind“, wird die zierliche, blonde Frau später sagen. „Jesus war hier.“

Dann aber schnell zum Taxi. Jesus hatte keinen Zeitdruck – aber unser Fahrdienst wartet nicht. Die Kanadierin fragt den Fahrer: „Was bist du? Jude, Muslim, Christ?“ Sie wartet die Antwort nicht ab, als hätte sie begriffen, dass es keine Rolle spielt. Den Rest der Fahrt spricht sie nur von der Schönheit Galiläas.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung