Pawel wurde als erster schwuler Flüchtling aus Russland anerkannt. Eine Begegnung.
Als der Anruf kam, wusste Pawel nicht, wohin mit seinem Glück. Mit wem sollte er es teilen? In der Flüchtlingsunterkunft, in der er lebte, hatte er keine Freunde, und auch sonst kannte er niemanden in der Stadt. Er war ja erst seit ein paar Monaten in Deutschland.
Also ging Pawel los und kaufte einen Strauß rote Rosen. Einzeln verteilte er sie auf der Straße, lächelnd, wortlos. Die Passanten wunderten sich, manche wimmelten ihn ab. Aber an diesem Tag konnte Pawel nichts kränken.
Die Behörden hatten entschieden, dass er in Deutschland bleiben darf. Pawel wusste, dass er jetzt ohne Angst leben würde. Selbstbestimmt, wie er wollte. Und mit wem er wollte.
Pawel, zuletzt wohnhaft in Nowosibirsk, ist schwul. Im April 2013 floh er aus Russland. Aus einem Land, in dem Homosexuelle eine Anzeige fürchten müssen, wenn sie ihre Liebe öffentlich zeigen. Einem Land, in dem Nationalisten schwule Jugendliche mit Urin übergießen und Videos davon ins Netz stellen. Aus einem Land, „gefüllt mit Hass“, wie Pawel sagt. Am 26. April stellte Pawel in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt seinen Antrag auf Asyl in Deutschland. Pawel ist wahrscheinlich der erste Homosexuelle aus Russland, den die Bundesrepublik als politischen Flüchtling anerkennt.
Homosexuelle werden in Russland offen diskriminiert. Seit 2006 verabschiedeten mehrere Stadt- und Regionalparlamente Gesetze, die es verbieten, „in öffentlichen Aktionen“ über Homo-, Bi- und Transsexualität aufzuklären. Seit Juni dieses Jahres steht dies in ganz Russland unter Strafe. Politiker wie der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning (FDP) oder Linken-Fraktionschef Gregor Gysi forderten daraufhin, russischen Homosexuellen, die in ihrer Heimat verfolgt werden, Asyl zu gewähren.
Um in Deutschland als Flüchtling anerkannt zu werden, muss man nicht nur Verfolgung nachweisen, sondern auch, dass der Staat Homosexuelle nicht schützen kann oder sogar nicht will. Die Berliner Anwältin Barbara Wessel, die Pawel vertritt, sagt, ihr Mandant habe „ganz klar staatliche Verfolgung erlitten“.
„Russland vergessen wie einen bösen Traum.“
Pawel sieht älter aus als die 26 Jahre, die er ist. Sein Leben hat er zurückgelassen. Er hat seinen Job als Mediziner in einer Klinik aufgegeben, sich von seiner Mutter verabschiedet. Nach seiner Familie sehnt er sich, aber nach Russland? „Ich möchte dieses Land vergessen wie einen bösen Traum“, sagt Pawel.
Schon mit zehn oder elf Jahren merkte Pawel, dass er sich zu anderen Jungen hingezogen fühlte. „Ich dachte, ich sei nicht normal“, sagt Pawel, „also versuchte ich, es zu unterdrücken.“ Aufklärung, „das, was heute Propaganda genannt wird“, gab es in dem Dorf, in dem er damals lebte, nicht. Pawel legte sich Ausreden zurecht. Dass er keine Freundin hatte, lag eben daran, dass er viel für die Schule lernte. Dass er so viel Zeit allein verbrachte, war seinem Nebenjob geschuldet, mit dem er sein Studium finanzierte. „Du musst auf jedes Wort achten, dich ständig kontrollieren. Das macht dich fertig.“ Drei Selbstmordversuche hat er hinter sich.
Mit 17 Jahren beschloss Pawel, sich zu outen. „Ich wusste, dass das Leben danach nicht leichter wird. Aber ich wollte zumindest inneren Frieden.“ Seine Mutter weinte. „Sie liebt mich“, sagt Pawel. „Ihr war nur klar: Ab jetzt wird es ihr Sohn nicht leicht haben.“ Freunde sahen Pawel plötzlich mit anderen Augen. Er war nicht mehr der Mensch, den sie schätzten, der Arzt, der heilte, sondern der Schwule. Als habe er eine ansteckende Krankheit. „Die Menschen sehen in dir ein Monster“, sagt Pawel. „Wahrscheinlich hat mich die halbe Stadt schon mal beschimpft.“
Pawel verliebte sich. Ging er mit seinem Freund aus, bat Pawel Freundinnen, sie zu begleiten – zu groß war die Angst, auf der Straße angegriffen zu werden. Irgendwann bekam er, mittlerweile berufstätig, Probleme bei der Arbeit. Was er konnte, zählte oft weniger, als wen er liebte. Schließlich packte Pawel eine Reisetasche und floh.
Wie viele Menschen in Deutschland Zuflucht suchen, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden, ist nicht bekannt. Der Verein Pro Asyl schätzt, dass es sich um einige Hundert Fälle pro Jahr handelt. Quarteera, eine Organisation, die sich um Lesben, Schwule und Transsexuelle mit russischem Migrationshintergrund kümmert, berichtet von fünf Personen, die seit April aus Russland geflohen seien und sich bei der Organisation gemeldet hätten. Sie haben Anträge auf Asyl gestellt. Die Entscheidung steht noch aus. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte mit, man beobachte die Entwicklung in der Russischen Föderation. Das russische Gesetz führe aber noch nicht zu einer „generellen Schutzgewährung“.
Auch Pawel wandte sich, in Berlin angekommen, an Quarteera. „Ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte“, sagt er. Die Anrufe der Mitarbeiter halfen ihm in der Zeit bis zur Anhörung. „Im Wohnheim bist du kein Mensch, sondern nur eine Nummer.“ Pawel war nach Deutschland gekommen, um offen leben zu können. Doch in den Asylunterkünften war niemand auf einen schwulen, russischen Flüchtling eingestellt. „In den Lagern gehörte jeder zu einer Gruppe: Tschetschenen, Kurden, Araber“, erzählt Pawel. „Nur ich war allein. Wenn ich gesagt hätte, dass ich schwul bin, hätte man mich in kleine Stücke geschnitten.“
„Er hat in den Heimen gelitten“, sagt Pawels Anwältin, die ihn damals erlebt hat. „Er hatte Angst, dass der Antrag abgelehnt wird und ihm auch seine gute Ausbildung nichts hilft. Dass er stattdessen jahrelang im Heim vor sich hin vegetieren muss.“
In einigen Fällen dauert es bis zur endgültigen Entscheidung Jahre. Bei Pawel kam an einem Montag im August der Anruf. Knapp einen Monat nach seiner Anhörung stand fest: Er wird als Flüchtling anerkannt.
Hass in der Heimat
Trotz aller Widrigkeiten – Pawel hat es nicht bereut, Russland verlassen zu haben. „Die Schrauben werden sich zuziehen“, sagt er. „Putin wollte Russland mit allen Mitteln vom Westen abgrenzen. Dafür hat er den Hass entfesselt.“ Pawel spricht klar und ohne Furcht. In russischen Medien sind inzwischen Artikel über den ersten Schwulen aufgetaucht, der nach Deutschland floh. „Hoffentlich machen die bald alle rüber“, heißt es unter einem Text. Andere Kommentatoren vermuten, Pawel habe sich seine Verfolgungsgeschichte nur ausgedacht. „Ihre angeblichen Probleme haben die Schwulen doch selbst erfunden!“, ätzt ein Kommentator. Ein anderer fragt: „Wenn ich schwul werde – kann ich dann auch auswandern?“
Er macht sich Sorgen um seine Mutter, die in Nowosibirsk geblieben ist. Er will sie schützen: Vor Reportern, die sie bedrängen, Repressalien, die sie an seiner statt erreichen könnten. Deshalb möchte er, obwohl er sonst offen spricht, anonym bleiben: Pawel ist nicht sein richtiger Name. Deshalb sollen Details seiner Reise nicht beschrieben werden.
Seit Quarteera Ende September Pawels Anerkennung bekannt gab, verzeichnet die Organisation einen drastischen Anstieg der Anfragen aus Russland.
Ständig fragt er: Darf man das? Warum machen die Deutschen jenes?
Pawels Tage sind nun gefüllt mit den Formalitäten der Freiheit. Welchen Sprachkurs kann er bekommen? Wie wird sein Abschluss anerkannt? Immer heißt es: Nummer ziehen, warten, nichts geht ohne Termin. Die strikten Zuständigkeiten sind neu für Pawel, die Sprache ebenso. Mitglieder von Quateera übersetzen auf den Ämtern. Pawel stellt klar: Das sei nur vorübergehend. „Sechs Monate brauche ich, um die Sprache zu lernen. Noch mal sechs, um einen Job zu finden.“ Schon im Wohnheim hat er unregelmäßige Verben gepaukt.
Pawel träumt, macht Pläne: heiraten, Kinder großziehen. „Geht das in Deutschland?“ Man merkt ihm die Aufregung über sein neues Leben an. Ständig fragt er: Darf man das?, und: Warum machen die Deutschen jenes? Pawel geht niemals bei Rot über die Straße, und die erste Zeit sammelte er seine Zigarettenkippen in einem Tütchen in seiner Tasche, weil er sich nicht traute, sie auf den Boden zu werfen.
Am Tag unserer Begegnung hat Pawel einen Termin beim Friseur. Er lässt sich die Seiten stutzen – zurück bleibt ein Irokesenschnitt. Er streicht sich über den Kopf, schaut sich im Spiegel von allen Seiten an. „Mit so einer Frisur würde ich in Russland sofort eins aufs Maul kriegen“, sagt Pawel grinsend. Und wundert sich sofort: „Kann ich hier wirklich so rausgehen?“
Später kommt ihm auf der Straße ein schwules Paar entgegen, sie halten sich an den Händen. Pawel bleibt abrupt stehen. Er sieht den beiden Männern lange nach. „Ich bin das noch nicht gewohnt“, sagt Pawel. „Es wird dauern, bis ich mich so etwas traue.“ Nicht nur Pawel wird es so gehen. Der Fall eines zweiten Homosexuellen aus Russland steht kurz vor der Anerkennung.