Der Zauber des Neuanfangs

Unter den Migranten, die in Deutschland ihr Glück versuchen, sind auch immer mehr junge Homosexuelle. Ihr Ziel ist oft Berlin, wo es egal ist, wen man liebt. Doch die Freiheit der Stadt hat ihre Tücken.

Zsuzsanna und ihr Heimatland passen nicht zusammen. Obwohl sie dort geboren und aufgewachsen ist, die Kultur kennt, die Sprache spricht. Aber sie kann dort nicht sein, wer sie möchte. Deshalb beschloss Zsuzsanna, zu gehen und sich eine neue Heimat zu suchen. Gemeldet ist sie in Budapest, Ungarn. Doch in Gedanken ist sie schon in Berlin. Zsuzsanna, 26 Jahre alt, rundes Gesicht, kurze, braune Haare, ist lesbisch. Sie hat Kunstgeschichte und BWL studiert, bald macht sie ihren Abschluss. Dann wird sie ihre Koffer packen und auswandern.

Dass immer mehr junge Südeuropäer in Deutschland ihr Glück versuchen, ist bekannt. Seit einiger Zeit gibt es aber eine neue Welle der Migranten: Junge Homosexuelle verlassen ihre Heimat, um in Deutschland ein freieres Leben führen zu können. Oft kommen sie aus Mittel- und Osteuropa: Polen, Litauen oder Ungarn. Diese Regenbogenmigranten lassen sich meist in Großstädten nieder: Köln oder Düsseldorf sind ein häufiges Ziel, aber vor allem natürlich Berlin, wo die WG-Zimmer günstig sind und sich gerade die ganze Welt tummelt. Wo es egal ist, wen du liebst und woher du kommst. Wo jeder seinen Mikrokosmos findet. Da will Zsuzsanna hin.

Offen leben konnte sie ihre Liebe nicht

Anna, 24 Jahre alt, ist schon dort. Auf ihrem Fahrrad flitzt sie durch die Straßen. In dieser Stadt muss es schnell gehen – und Anna beeilt sich. Sie muss zur Sprachschule, zur Arbeit, danach Treffen mit Freunden. Und Freundinnen. Auch Anna ist lesbisch. Und auch sie hat Ungarn verlassen, weil ihr Leben dort zunehmend schwierig wurde. In Berlin ist ihr Tag vollgepackt. Man könnte auch sagen: erfüllt. Anna war auch in Ungarn nicht unglücklich. Die junge Frau ist nicht nur auffallend schön, sondern auch einnehmend. Anna wirkt lebensfroh, gedankenvoll. In Budapest hatte sie viele Freunde, auch homosexuelle. Sie trafen sich im Privaten, offen leben konnten sie ihre Liebe nicht. Als Annas Eltern herausfanden, dass ihre Tochter lesbisch ist, wurde das Verhältnis schwierig. Es gab keinen Streit, aber auch kein offenes Gespräch. Dass sie Frauen liebte, wollten die Eltern weder hören noch wahrhaben. Anna, die sonst sprudelt, stockt. Wie sehr sie die Distanzierung verletzt hat, kann man nur erahnen. Anna zog fort: „Ich wollte so weit wie möglich entfernt sein.“

Erst dachte sie an Wien – aber das war ihrer Heimatstadt Budapest zu ähnlich. Dann erinnerte sie sich an Berlin. Sie war mehrmals zu Besuch gewesen und mochte die Stadt, weil jeder Kiez eine andere Welt ist: der Prenzlauer Berg eher schick, Kreuzberg alternativ, der Wedding fast schon orientalisch. Weil es Kunst gab und Kultur – Anna liebt klassische Musik – und beides bezahlbar. Und weil jeder jemanden kannte, der schon dort war. Paris und London sind der modernen Bohème zu teuer geworden. Berlin ist dagegen noch günstig: Ein WG-Zimmer zu finden ist nicht schwer, das „Sterni“-Bier beim Kiosk kostet keinen Euro. Das Wissen, gerade am Puls Europas zu sein, gibt’s gratis dazu.

„Ich war schon immer eher jungenhaft“

Auch Zsuzsanna kennt dieses Gefühl. Sie hat schon einmal in Berlin gelebt: 2012 bekam sie ein Stipendium und ein Praktikum in einer Kunstgalerie. Zsuzsanna merkte bald, dass diese Stadt etwas Besonderes war. In Ungarn hatte sie selten ein lesbisches Paar gesehen, das sich öffentlich an den Händen hielt oder gar küsste. In Berlin dauerte es keine zwei Stunden. Dass sie homosexuell ist, hatte Zsuzsanna schon sehr lange gewusst. Das Wissen, falsch in ihrem Land zu sein, muss als Teenager begonnen haben. „Viele Ungarn haben genaue Vorstellungen davon, wie ein Mädchen zu sein hat“, sagt Zsuzsanna. „Und ich war schon immer eher jungenhaft.“ Und nach einer Pause fügt sie hinzu: „Ich habe mich geschämt.“

Wer mit ungarischen Homosexuellen spricht, hört immer wieder, als wie rückständig sie ihre Gesellschaft empfinden, die Atmosphäre, in der sie aufwuchsen. Und so erklären sie auch, dass die Regierung Toleranz nicht fördert, sondern die Stimmung gegen Minderheiten weiter anheizt. Dass die rechtsradikale Partei Jobbik 2012 einen Gesetzesentwurf einbrachte, der „amoralisches Verhalten“ unter Strafe stellen sollte, hat Zsuzsanna zwar verletzt. Und sie ist traurig, dass eine Familie qua Verfassung nur aus Mann und Frau bestehen kann. Aber das Wort „Homophobie“ kommt ihr nicht über die Lippen; es ist, als würde sie es nicht kennen. Was sie dagegen kennt, ist das Gefühl, den Erwartungen ihrer Eltern, ihrer Freunde nicht gerecht zu werden. Wie anders das Leben sein kann, das lernte Zsuzsanna erst im Ausland.

Akzeptanz in Deutschland

Niemand in Berlin, weder ihre Kollegen noch ihre Bekanntschaften, störte sich an ihrem burschikosen Aussehen. Sie begegnete anderen Lesben und Schwulen, die offen mit ihrer Sexualität umgingen. Sie besuchte Partys und traf sich mit einer Frau. „Und keiner hat uns beleidigt, nur weil wir zusammen die Straße entlanggingen.“ Sie begann nachzudenken. Wer war sie? Wer wollte sie sein? Eines Morgens stellte Zsuzsanna sich vor den Spiegel und sagte laut: „Ich bin lesbisch.“ Es war das allererste Mal, dass sie es aussprach. „Berlin hat mich einen großen Schritt nach vorne gebracht“, sagt sie heute.

Denn während Homosexuelle in Ungarn möglichst unauffällig leben, wächst in Deutschland die erste Generation heran, die nicht für ihre Akzeptanz kämpfen muss. In den Köpfen der Menschen mag es noch Vorurteile geben, doch von offizieller Seite wurden die meisten Mauern eingerissen. Es war der Kontrast, hier die Engstirnigkeit der Budapester, da die Offenheit der Berliner, die Zsuzsanna den Anstoß gab, ihr Leben zu überdenken. Doch sich an ein neues Extrem zu gewöhnen, ist nicht einfach.

Seit fast einem Jahr lebt Anna nun in einer Dreier-WG in Schöneberg. Auch sie spürt den Zauber des Anfangs, wie Zsuzsanna ihn gespürt hat. Über Couchsurfing hat sie Freunde gefunden: Sie treffen sich in Clubs, tanzen durch die Nächte. Über das Netzwerk knüpft sie Kontakte, auch zu Deutschen. Silvester zum Beispiel hat sie mit einem deutschen Freund und seiner Familie gefeiert. Ihr Deutsch ist noch nicht akzent-, aber fast fehlerfrei. Sie kellnert in einem Restaurant.

„Berlin tötet Emotionen“

Anna möchte ankommen, sie bemüht sich nach Kräften. Aber je länger sie in Berlin lebt, desto klarer wird ihr, dass auch die Maßlosigkeit der Stadt ihre Tücken hat. Berlin ist ein Durchgangsort, der Treffpunkt aller Sehnsüchtigen. Wer herkommt, ist auf der Suche, und nicht alle wissen, wonach. Anna lernte Leute kennen, aber eine echte Partnerin fand sie nicht. „Es gibt keine echten Bindungen“, sagt sie. „Berlin tötet Emotionen.“ Wo in Ungarn die Freiheit fehlt, fehlt hier die Sicherheit.

Ob sie sich vorstellen kann, nach Ungarn zurückzukehren? Wie auch Zsuzsanna bemüht Anna sich, die Tendenzen dort zu erklären; sie möchte nicht, dass man schlecht über ihre Heimat denkt. Ungarn sei ein armes Land, und die Wirtschaftskrise mache den Menschen zu schaffen. „Sie brauchen eben einen Sündenbock“, sagt sie beinahe entschuldigend. Nur in einem reichen Land wie Deutschland könne man sein, wer man möchte. Sie könne Ungarn nicht ändern, sagt Anna irgendwann. „Ich kann bleiben und mich beschweren. Oder ich kann gehen.“ Sie atmet durch; der letzte Satz, das Eingeständnis, ist ihr schwergefallen. „Aber Berlin ist auch kein Paradies“, fügt sie hinzu.

Treffpunkt aller Sehnsüchtigen

Für Zsuzsanna, die in Budapest in der letzten Phase ihres Studiums steckt, ist Berlin noch immer ihr Sehnsuchtsort. „Ich habe Berlin noch lange in mir getragen“, sagt sie. Nach dem Ende ihres Praktikums kehrte sie nach Ungarn zurück, aber die Erfahrungen in Deutschland hallten nach. Das Leben schien ihr leichter, schöner. Sie wechselte den Freundeskreis und outete sich zumindest vor ihrer Mutter und Großmutter. Nun möchte Zsuzsanna zurück nach Berlin, um dort neu anzufangen, eventuell auch nach London, denn das sei ähnlich aufgeschlossen. „Aber Berlin hat eine tolle Kulturszene. Wahrscheinlich wäre es dort einfacher, einen Job zu finden.“

Zsuzsanna will irgendwann Kulturprojekte organisieren und den Austausch mit Ungarn fördern. „Ich fühle mich für Ungarn verantwortlich“, sagt sie. „Ich würde mir wünschen, dass sich etwas ändert.“ Aber im Moment passt ein anderes Land besser zu ihr.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung