Eine obskure Zusammenkunft von Israels angesagtesten Unternehmern zeigt, warum dort so viele Firmen entstehen.
Der jungen Frau stehen die Süßigkeiten bis zum Hals: Sie liegt in einer Badewanne, die mit gut 100.000 M&Ms aus bunt umhüllter Schokolade gefüllt ist. Sie kichert und posiert, während eine Freundin die Szene mit dem Handy fotografiert. Als sie wieder aus der Wanne steigt, sagt sie: „Hier mache ich Dinge, die ich sonst niemals tun würde.“ Man darf es ihr glauben, denn sie arbeitet für die israelischen Sicherheitsbehörden.
Mit „hier“ meint die junge Frau allerdings keine Party, obwohl es arg danach aussieht. Vielmehr geht es um eine Art alljährliches Klassentreffen der Elite der israelischen Hightechbranche. Etwa 250 Manager und Hacker, Studenten, Gründer und Professoren bevölkern dann zwei Tage lang ein Hotel in Nazareth. Vordergründig ist das Programm der Kinnernet genannten Veranstaltung eine Mischung aus Kunst und Quatsch. Tatsächlich lässt sich dort aber lernen, was junge Unternehmen in Israel so erfolgreich macht und warum es so viele gibt: Bei knapp acht Millionen Einwohnern sind es etwa 4.000 Unternehmensneugründungen aus dem Bereich Informationstechnik (IT) – nur in den USA ist die Quote höher.
Schon am Eingang wird klar: Das ist keine gewöhnliche Konferenz. Der Zeitplan an der Hotelwand ist leer. Niemand scheint eine Ahnung zu haben, was auf ihn zukommt. Nach und nach füllen sich die Spalten: mit Vorträgen über „Hightechgerechtigkeit“ und psychologische Experimente, über Katzenfotos im Netz und darüber, wie man es schafft, auch ohne eigenes Start-up glücklich zu sein. Wie ein Onlineforum besteht die Konferenz ausschließlich aus Inhalten, die Teilnehmer selbst beisteuern. „Irgendjemand erklärt im Laufe des Wochenendes garantiert, warum Enten immer in einer Reihe gehen“, witzelt ein Besucher.
Wer keinen obskuren Vortrag hält, präsentiert zumindest eine bizarre Erfindung. Ein Paar rosafarbene Hasenohren zum Beispiel, die vibrieren, wenn ihr Träger sich freut. Oder eine Art faltbaren Motorroller. In einer Ecke des Innenhofs mixt derweil ein Computer Cocktails, jemand spielt ein Xylophon aus Bierflaschen, und durch die Luft rasen Spielkarten, abgeschossen mit einer eigens konstruierten Pistole.
„Feiert Eure Ideen!“
Der Erfinder des Spektakels heißt Yossi Vardi. Der Mann ist so etwas wie der Übervater der israelischen Hochtechnologieszene. Vor Jahren investierte er als Erster in das Kurznachrichtenprogramm ICQ. Kurze Zeit später hat AOL es gekauft – für 400 Millionen Dollar. Heute unterstützt Vardi Gründungen im ganzen Land. Und von denen gibt es viele: Etwa 600 IT-Firmen wurden allein im vergangenen Jahr gegründet, Investoren haben rund 1,9 Milliarden Dollar in sie investiert. Zum Vergleich: Deutsche Gründungen aus der IT- und Internetbranche erhielten etwa ein Sechstel der Summe. Silicon Wadi wird das Land schon genannt – eine Mischung aus Silicon Valley und dem arabischen Wort für „Flusstal“. Einer internationalen Studie zufolge, die der spanische Mobilfunkkonzern Telefónica unterstützt hat, ist Tel Aviv nach dem Silicon Valley weltweit der zweitbeste Standort für junge Internetunternehmen. Das zieht auch die Großen der Branche an: Firmen wie Apple und Microsoft haben in Israel ihre ersten Forschungszentren außerhalb der USA eröffnet.
Das Erfolgsgeheimnis der Israelis, so Vardi, sei aber nicht nur technisches Know-how. Was die israelische Hochtechnologie-Industrie zu einer der besten der Welt mache, sei Kreativität. Um diese geheime Zutat zu kultivieren, lädt Vardi zu Treffen wie Kinnernet. Im geschützten Raum dieser Veranstaltungen gibt es nur eine Regel: Man darf keine Angst haben, sich lächerlich zu machen. „Es geht darum, verrückt zu sein“, sagt Vardi. Nur so entstünden Geistesblitze. Jede Darbietung, und sei sie auch noch so bizarr, wird bei Kinnernet beklatscht – sie könnte sich ja als the next big thing erweisen. „Feiert die Ideen, auch wenn sie es vielleicht nicht wert sind“, ruft Vardi der Menge denn auch zu.
Wie ernst der Gründerguru dieses Mantra nimmt, hat Erez Naveh erlebt. Vor einigen Jahren saß der heute 33-Jährige in Vardis Wohnzimmer, um ihn als Investor zu gewinnen. Zusammen mit Freunden hatte Naveh eine Webseite für Onlinespiele gegründet und wollte sie nun ausbauen. Naveh hatte eine PowerPoint-Präsentation vorbereitet, wollte Vardi mit Zahlen überzeugen. Doch den interessierte das nicht. „Stattdessen fragte er, was wir in unserer Freizeit machen“, erinnert sich Naveh. Sie sprachen über Musik – Naveh spielt Klavier und Schlagzeug, Vardi liebt Opern – und am Ende des Gesprächs stieg Vardi in das Unternehmen ein. Natürlich ging es dabei nicht nur um Sympathien. „Aber es war ihm wichtig, zu wissen, wer wir sind und ob wir an unsere Idee glauben“, sagt Naveh. Im Gegenzug bekam der Jungunternehmer nicht nur Startkapital, sondern auch Zugang zu einem breiten Netzwerk. „Das hier“, sagt der junge Gründer, „ist Teil des Investments.“
Mit „Das hier“ meint er die Kinnernet. Während er spricht, baut jemand in der Nähe ein Karussell auf. In einem Hotelflur daddeln Besucher an einem uralten Computer das nach heutigen Maßstäben grafisch steinzeitliche Spiel Pac-Man. Die meisten Teilnehmer tragen kurze Hosen und Flipflops, balancieren Plastikbecher mit Bier, halten Momente auf Handybildern fest. Viele sind junge Gründer wie Naveh. Doch unter den Lektoren, den verrückten Erfindern, all den Gästen, die nur mit persönlicher Einladung Vardis zu dem exklusiven Geheimtreffen kommen dürfen, sind auch einige der wichtigsten Köpfe der Branche. Mitarbeiter etablierter Hightechkonzerne nehmen an Kinnernet teil, Microsoft und Google sponsern die Veranstaltung. „Der Wert dieses Events ist nicht zu überschätzen“, sagt ein Manager des Suchmaschinenkonzerns. „Auf Konferenzen führst du normalerweise immer dieselben Gespräche. Aber hier – hier ist alles anders.“
Das liegt auch an den geladenen Persönlichkeiten, die recht unterschiedliche Hobbys mit Leidenschaft betreiben. Ein IT-Student etwa ist gleichzeitig Weltmeister im Fliegen von ferngesteuerten Hubschraubern. Ein Professor der Biochemie schreibt nebenbei Kinderbücher. Ein Google-Manager spielt bei einem Jazzkonzert auf der Bühne Klavier, mit Erez Naveh am Schlagzeug.
Vistenkarten sind verboten – Journalisten auch
Ob jemand 300 Mitarbeiter hat oder 3 – an diesem Wochenende spielt es keine Rolle, zumal die Teilnehmer allerlei spezielle Interessen teilen. Tagsüber basteln sie gemeinsam Schmuck aus alten Festplattenteilen, abends führen sie eine Episode von Star Wars als Theaterstück auf, bevor sie später versuchen, einander bei „Werwolf“, einer Art Detektivspiel, um die Ecke zu bringen. „Immer sterben die Microsoft-Leute zuerst“, sagt ein schmollender Mitspieler nach seinem virtuellen Tod.
Wer bei welchem Unternehmen arbeitet, lässt sich allerdings nur erraten. Auf den Namensschildern fehlt die Stellenbezeichnung, Visitenkarten sind streng verboten. Derlei Egalität ist bezeichnend für die israelische Szene, und sie wurzelt im Militärdienst, den sowohl Männer als auch Frauen durchlaufen. „Wer an militärische Kultur denkt, denkt gewöhnlich an strikte Hierarchien“, heißt es in dem 2009 erschienen Bestseller Start-Up Nation, der den Erfolg israelischer Unternehmensgründer zu erklären versucht. Doch das israelische Militär habe mit dieser Beschreibung nicht viel gemein. Statt blinden Gehorsams lernten die Soldaten dort, in jungem Alter Verantwortung zu übernehmen und Kritik zu üben – auch an Kommandeuren. Wenn die Bürger schließlich als Reservisten weiter dienen, führten Taxifahrer plötzlich Millionäre, so die Autoren Dan Senor und Saul Singer. Das helfe, Hierarchien abzubauen.
Dass diese Theorie auch in der Praxis Bestand hat, lässt sich an Kinnernet ablesen. Zur obligatorischen Kostümparty verwandeln sich die Teilnehmer plötzlich in Cäsar, Einstein oder eine Bauchtänzerin. Und selbstverständlich verkleidet sich auch Yossi Vardi: mit Glitzerhut und Baströckchen. Er tanzt nur nicht mehr, bis der Morgen graut, mit seinen mittlerweile 70 Jahren. Während die einen feiern, kümmern sich andere um die 100.000 M&Ms aus der Badewanne. In der Kapelle des Hotels wollen sie daraus ein riesiges Mosaik legen. Für die Touristen im Hotel. Die gibt es ja auch noch.
Erschienen in DIE ZEIT
Kategorien:Die Zeit, Reportagen