Schalom, ich bin raus

Schmuel Lamdan wuchs in Israel in einer ultraorthodoxen Familie auf. Um ein Studium zu beginnen, hat er alles zurückgelassen.

Am Anfang waren die Fragen: Warum können Menschen nicht fliegen? Warum ist die Welt, wie sie ist? Warum sind wir hier? „Jeder denkt irgendwann darüber nach“, sagt Schmuel Lamdan. Doch er bekam immer dieselbe Antwort, egal, ob er seine Eltern, seine Freunde oder Lehrer fragte: „Warum? Weil Gott es so will.“ Lamdan sagt: „Ich wollte das so gern glauben.“

Schmuel Lamdan hat in einer Jeschiwa in Modi’in gelebt, einer Talmudschule zwischen Jerusalem und Tel Aviv, gemeinsam mit 400 anderen Jungen. Er tat, was seine Familie – seine Eltern, seine neun Brüder und Schwestern – von ihm erwartete. Er betete, hielt den Sabbat und mied jeden Kontakt zu Menschen, die nicht die gleichen Werte vertraten. Damals sah jeder Tag in seinem Leben gleich aus: Morgens um sieben stand Lamdan auf, dann las er vier Stunden im Talmud, einer der wichtigsten Schriften des Judentums. Nach dem Mittagessen: erneut vier Stunden Talmud. Und abends? Talmud. „Die einzige Abwechslung war das Essen“, sagt Lamdan. „Und viele, viele Zigaretten.“

Schmuel Lamdan ist heute 26 Jahre alt. Er wohnt jetzt in der Nähe von Tel Aviv, in einer Gegend, in der die Hauswände fleckig sind von den Abgasen der Hauptstraße. In vielen Vorgärten türmt sich Müll, in einem pickt ein Hahn vor der Haustür. Hier wohnt nur, wer sich die Mieten in Tel Aviv nicht leisten kann. „Hauptsächlich Afrikaner“, sagt Lamdan. „Und wir.“ Wir, das sind er und seine Mitbewohner: Schlomi, ein angehender Koch, und Racheli, seine Freundin, die in einer Bar arbeitet. Mit ihnen teilt Schmuel Lamdan mehr als nur die Wohnung: Alle drei wuchsen in ultraorthodoxen Familien auf. Alle drei haben diese religiöse Gemeinschaft verlassen. Und haben damit alles aufgegeben, was sie bis dahin geglaubt hatten und für richtig hielten.

700.000 Menschen in Israel, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, bezeichnen sich als Charedim, das bedeutet „Gottesfürchtige“. Sie sind die strengsten der gläubigen Juden, die Ultraorthodoxen. Mitten im modernen Israel leben sie in einer Parallelgesellschaft nach den Regeln der Thora. Jeder Moment des Tages folgt einer Bestimmung, jede Handlung, jede Mahlzeit hat ihr eigenes Gebet. Das moderne Leben lehnen die Orthodoxen ab: Viele wissen nicht, wie eine Kreditkarte funktioniert, und haben noch nie das Internet benutzt. „Danke“ sagen die Ultraorthodoxen nur zu Gott. Frauen in Hosen oder engen Kleidern werden in ihren Stadtteilen nicht gern gesehen. Sie kritisieren den israelischen Staat, die Armee, die Wehrpflicht. Viele von ihnen lernen nie eine andere Sprache als Jiddisch oder Hebräisch, keine Naturwissenschaften, keine Geografie. Viele Männer widmen ihr Leben nur dem Thorastudium, während die Frauen arbeiten gehen und das Geld verdienen.

In den Straßen von Jerusalem oder Tel Aviv erkennt man die Ultraorthodoxen von Weitem: Die Frauen an ihren Perücken, mit denen sie – dem islamischen Kopftuch ähnlich – ihr Haar verdecken, die Männer an Schläfenlocken, Filzhut und Anzug. Früher sah auch Schmuel Lamdan so aus. Heute trägt er Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt. „Meine Mutter würde durchdrehen, wenn sie mich so sehen könnte“, sagt er.

Das Einzige, was er aus seinem früheren Leben behalten hat, sind die Zigaretten. Bevor er erzählt, lässt er sich aufs Sofa fallen und dreht sich eine Kippe. Über ihm räkelt sich auf einem Poster an der Wand Angelina Jolie. „Früher habe ich zu Gott gebetet“, sagt Lamdan. „Heute bete ich Angelina Jolie an.“ Er scherzt viel – und spricht kurz darauf wieder mit dem Ernst eines Mannes, der uralte religiöse Schriften studiert hat. „Ich habe mich so nach Frauen gesehnt“, sagt Schmuel Lamdan über seine Zeit an der Talmudschule. „Dafür habe ich mich geschämt und dachte dann schlecht über mich selbst.“ Je älter er wurde, desto nutzloser kamen ihm die strengen Regeln vor. Dass ein Tag wie der andere war, ein einziges langes Gebet – was hatte Gott sich dabei gedacht? Lamdan wollte Mädchen küssen und mit ihnen am Strand von Tel Aviv spazieren. Er wollte Romane lesen und nicht nur Gebetstexte. Er wollte einen Beruf haben und Geld verdienen. Aber all das tun ultraorthodoxe Männer nicht.

Schmuel früher

Manchmal blieb er im Bett liegen, als das Morgengebet begann. Später versuchte er, diese Sünde wiedergutzumachen. Seine Gefühle pendelten zwischen Trotz und Scham. Das Schlimmste: Er konnte mit niemandem darüber sprechen. Das galt als Schwäche, als Undankbarkeit gegenüber Gott. „Ich war ständig von Menschen umgeben, aber trotzdem fühlte ich mich einsam“, sagt er. Lamdan verstand nicht, welchen Sinn solch ein Leben haben könnte. Er wollte Antworten. Doch niemand in der Jeschiwa konnte sie ihm geben. Eines Tages nahm er seinen Mut zusammen und beendete sein bisheriges Leben. Er rief bei Hillel an.

Ein Abend, irgendwo im Norden von Tel Aviv. Lamdan habe sich schon die ganze Woche auf diesen Abend gefreut, sagt er. Jetzt betritt er ein Hochhaus an einer Straßenkreuzung, klingelt an einer Wohnungstür im zweiten Stock. Auf dem Klingelschild steht kein Name. Als sich die Tür öffnet, wird Lamdan herzlich begrüßt. Er umarmt die anderen Gäste, prostet ihnen zu. Der Frau im bunten Sommerkleid und ihrer Freundin, die einen Ring in der Nase trägt, den Männern in Kapuzenpullis. Wie eine Familie drängen sie sich um den Tisch, es gibt Spinatlasagne und grünen Salat. Die Stühle reichen nicht, weil heute so viele zum Treffen von Hillel gekommen sind. Hillel wurde vor zwölf Jahren gegründet, um Kindern aus ultraorthodoxen Familien den Weg in ein weltliches Leben zu ebnen. Der Verein vermittelt Wohnungen, Jobs, auch psychologische Hilfe. Einmal pro Woche treffen sich die Aussteiger. Sie kochen, sehen fern, manchmal feiern sie Partys. Die Älteren nehmen die Neuankömmlinge an die Hand, spenden Trost, lindern die Einsamkeit. Denn wer die Gemeinschaft der Ultraorthodoxen verlässt, zahlt dafür einen hohen Preis.

So wie Yael. Seit sie sich entschieden hat, ein weltliches Leben zu führen, darf sie ihre beiden Kinder nicht mehr treffen. In Sorgerechtsfällen entscheidet in der Regel ein Rabbinergericht, und der religiöse Elternteil wird dabei bevorzugt. Alles, was Yael geblieben ist, sind die Bilder auf ihrem Handy – ein Mädchen und ein Junge, dessen Gesicht schon von Schläfenlocken eingerahmt ist. Als Yael sich die Fotos ansieht, bilden sich Tränen in ihren Augen.

Und da ist Baruch, der kürzlich operiert wurde und nicht anders konnte, als zuvor seine Eltern anzurufen. Die Mutter weinte am Telefon, sie bat ihn aufzulegen. „Sie ist doch meine Mutter“, sagt Baruch. „Sie hat mich großgezogen, mich jeden Abend schlafen gelegt. Jetzt ist es, als wäre ich für sie gestorben“, sagt er. Viele ultraorthodoxe Eltern brechen den Kontakt zu ihren abtrünnigen Kindern ab, sagen Mitarbeiter von Hillel.

Ihre echten Namen wollen Yael und Baruch nicht verraten. Auch die Adresse von Hillel wird geheim gehalten, und Fremde sind bei den Treffen eigentlich nicht erlaubt. Schon einmal musste der Verein umziehen, weil Ultraorthodoxe die Mitarbeiter bedrohten. Schmuel Lamdan, der offen über seine Geschichte spricht und seine Eltern immer noch einmal pro Woche besuchen darf, ist eine Ausnahme bei Hillel. Während er auf dem Balkon eine Zigarette raucht, klingelt in der Wohnung das Telefon. Ein Mitarbeiter nimmt ab – doch am anderen Ende der Leitung bleibt es stumm. Es ist das dritte Mal an diesem Abend. Für das Wählen der Ziffern hat der Mut des Anrufers offenbar gereicht, doch zu einem Gespräch wird es heute nicht mehr kommen. Für die Ultraorthodoxen sei Hillel eine Bedrohung und ein Mythos, sagen die Mitarbeiter. Erwachsene verteufelteten den Verein, weil er Kinder von ihren Eltern entfremde. Unter den Jüngeren habe sich aber herumgesprochen, dass Hillel das Tor zu einer anderen Welt sei. Manchmal, sagt eine Mitarbeiterin, riefen Jugendliche an, die nur für einen Tag aussteigen wollten. Party machen, Drogen nehmen – dann zurück in die Talmudschule. Als Schmuel Lamdan vor etwa einem Jahr anrief, wurde er von den Hillel-Mitarbeitern mehrmals gefragt: Bist du dir ganz sicher? Weißt du wirklich, was da alles auf dich zukommt?

Die Ultraorthodoxen werden in Israel vom Staat unterstützt, sie sind von der Wehrpflicht befreit und werden finanziell gefördert. Sie bewahren jüdische Traditionen, wie sie in Osteuropa und anderswo bis zum Holocaust gelebt wurden. Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 ist ihre Zahl stark gewachsen. Die Orthodoxen haben eigene Parteien, die oft in der Regierung saßen und die Privilegien schützen. Hillel bekommt dagegen kein Geld vom Staat.

Zwei Wochen nach seinem ersten Anruf traf Schmuel Lamdan einen Sozialarbeiter. Zum ersten Mal konnte er frei sprechen. Der Verein brachte ihn für einige Monate in einer WG unter. Doch was sollte er mit seinem Leben anfangen? „Als Erstes habe ich Die Simpsons geschaut“, sagt Lamdan, „von morgens bis abends.“ Er hatte nie zuvor einen Fernseher besessen, niemals einen Tag selbst geplant. Sein Mentor bei Hillel, selbst ein Aussteiger, besorgte ihm einen Putzjob. Andere ehemalige Ultraorthodoxe arbeiten im Callcenter oder als Kellner. Ihre klassische Schulbildung reicht selten über das Einmaleins hinaus. Und ein Talmudstudium ist unter weniger religiösen Israelis nicht viel wert.

Schmuel Lamdan will mehr vom Leben als einen Aushilfsjob und eine Sozialwohnung. Er will einen Beruf, eine Familie und möchte als ganz normaler Bürger in Tel Aviv leben. Deshalb hat er sich entschlossen, fehlendes Wissen nachzuholen. Seit einem Jahr bekommt er Nachhilfe. Er lernt in einer Schule mit Abbrechern und Lernbehinderten; mit Schülern, die ein Vorstrafenregister haben oder abhängig sind von Ritalin. Dort bekommt Lamdan neue Antworten auf seine Frage, warum die Welt so ist, wie sie ist. Lamdan lernte Physik, erfuhr zum Beispiel, was es mit der Schwerkraft auf sich hat, und war begeistert. Die Religion, sagt Lamdan, habe irgendwann mal jemand erfunden. „Aber die Naturwissenschaft, die ist nicht bloß ein Gefühl. Jede Regel kann man beweisen!“

Das Lernen in der Klasse falle ihm schwer, sagt er. „In der Talmudschule öffnest du ein Gebetbuch und liest darin“, sagt Lamdan, „und wenn du etwas nicht verstehst, schlägst du in einem anderen Gebetbuch nach.“ Er habe nie gelernt, einem Lehrer zuzuhören und sich das Gesagte einzuprägen. Auch an den Lärm des Schulalltags könne er sich nicht gewöhnen. Deshalb schalte er im Unterricht oft ab. Schmuel Lamdan lernt dann zu Hause, manchmal bis spät in die Nacht. Die Wand über seinem Schreibtisch hat er mit Zeichnungen vollgeklebt. Sie zeigen geometrische Figuren, mathematische Funktionen, Stromkreisläufe. Lamdan verbringt Tage damit, sich die Skizzen einzuprägen. Er möchte die Schule mit guten Noten abschließen und dann Maschinenbau studieren. „Das ist mein Traum“, sagt er. „Dabei wusste ich früher nicht mal, dass es Maschinenbau gibt.“

Die Zimmer in seiner Aussteiger-WG sind bescheiden. „Wir haben wenig Geld“, sagt Lamdan. „Aber wir sind frei.“ Er und die beiden anderen haben sich bei Hillel kennengelernt und verbringen jeden Tag miteinander. Selbst wenn Lamdan einmal zur Uni gehen wird – niemand werde ihm je so nah sein wie seine Freunde bei Hillel, sagt er. „An meiner Schule reden alle von ihrer Armeezeit. Die haben ein ganz anderes Leben geführt als wir.“ Nur wer früher selbst ein Ultraorthodoxer gewesen sei, könne verstehen, wie viel es bedeute, zu lernen und zu tanzen, durch Tel Aviv zu schlendern und einen anderen in den Arm zu nehmen, sagt er. Es bedeutet die ganze Welt.

Schmuel Lamdan wohnt heute ausgerechnet neben einer Talmudschule. Wenn er auf seinem Balkon steht, kann er sie sehen: Die Jungen in weißen Hemden und Anzughosen, die mit einer Hand ihr Käppchen festhalten, während sie über den Hof toben. „Ich habe Mitleid mit ihnen“, sagt Lamdan. Er zieht an seiner Zigarette, mit den Augen folgt er den spielenden Kindern. „Sie sind nur zehn Meter von mir entfernt“, sagt er. „Aber sie leben auf einem anderen Planeten.“

Erschienen in ZEIT Campus