Auf der Flucht

Beim Planspiel „Youth on the Run“ schlüpfen Jugendliche für 24 Stunden in die Rolle afrikanischer Flüchtlinge. Ist das mutig oder makaber?

„Ich glaube euch kein Wort!“ Der jemenitische Grenzbeamte stößt zischend Luft aus, kneift die Augen zusammen. „Es ist die Wahrheit“, sagt der Flüchtling. Sie wollten über die Grenze, um auf der anderen Seite zu arbeiten. „Ich glaube euch nicht!“, schnauzt ihn der Beamte an. „Ich lasse euch so lange leiden, bis ihr mir eure Geschichte erzählt.“ Und schon müssen die Flüchtlinge zur Strafe durch den Wald rennen. Ihnen auf den Fersen der fluchende Grenzsoldat.

Durch den Wald? Der Jemen besteht zu großen Teilen aus Steppe. Wo soll es da einen Fichtenwald geben?

Das Dickicht, durch das die Flüchtlinge jagen, liegt nicht im Jemen. Die Flüchtlinge selbst sind ebenfalls keine echten Vertriebenen. Sondern Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 30 Jahren. Und was die Arabische Halbinsel darstellen soll, ist in Wahrheit ein Forst in Sachsen-Anhalt.

Die vier Jungen und Mädchen, die sich hier drillen lassen, sind Teil eines Experiments. Im Rollenspiel „Youth on the Run“ simulieren sie die Flucht afrikanischer Migranten.

Die westeuropäische Jugend einmal im Leben fliehen zu lassen ist eine Erfindung des dänischen Pädagogen Steen Cnops Rasmussen. Rasmussen stellte in den neunziger Jahren fest, dass dänische Jugendliche sich zunehmend rassistisch äußerten. Vielen mangelte es an Mitgefühl für Migranten, an Verständnis für deren Lebenssituation. Um das zu ändern, erfand Rasmussen eine radikale Methode: Er ließ junge Menschen all das erleben, was einem Asylbewerber auf der Flucht widerfährt.

Flüchtling für einen Tag

Für 24 Stunden sind die Teilnehmer von Youth on the Run nicht mehr Mitglied der Wohlstandsgesellschaft. Sondern Afrikaner, die vor Krieg und Armut in ihren Heimatländern fliehen.

Das Planspiel hat eine traurige Daueraktualität. Allein auf Lampedusa sind seit 1999 mehr als 200 000 Flüchtlinge gestrandet, in der Hoffnung auf ein Leben im sicheren Europa. Tausende kamen auf dem Weg dorthin um. Youth on the Run will den Weg dieser Menschen simulieren. Ist das mutig? Oder makaber?

Bevor es an diesem Samstagmorgen losgeht, ist jedenfalls noch Zeit für Scherze. „Die einzige Qual wird es, nicht zu rauchen“, sagt ein Teenager und zieht an seiner Zigarette. „Dabei ist das doch ein Menschenrecht!“ Seine Kumpels kichern. Die Teilnehmer wissen nicht, was der Tageslauf bringen wird. Das Thema des Seminars kennen sie, doch wie ihre Flucht aussehen wird, hat man ihnen nicht erzählt.

Damit die Flucht möglichst authentisch ist, bekommen die Teilnehmer für den Spielverlauf eine neue Identität. Die Jugendlichen werden in Kleingruppen aufgeteilt: Sie bilden eine somalische Familie, die gemeinsam flieht. Und so wird aus Thomas, Stefan, Helen und Nadia die Familie Yunis. Thomas ist nun das Familienoberhaupt. Mit Farbe wird ihm sein Alter auf die Wange gepinselt: Für die nächsten 24 Stunden ist er 44 Jahre alt. Vorgedruckte „Pässe“ werden ausgeteilt, dazu somalisches Spielgeld. Das Familienoberhaupt steckt es ein.

„Stellt euch in einer Reihe auf! Gesicht zur Wand!“ Freiwillige Helfer, kaum älter als die Teilnehmer selbst, haben die Rollen der Aufseher übernommen. Uniformiert stehen sie nun vor den „somalischen Flüchtlingen“. „Aufmachen!“ Thomas, Stefan, Helen und Nadia müssen ihre Rucksäcke öffnen. Die Wärter durchwühlen sie nach Persönlichem. Behalten dürfen sie nur eine Flasche Wasser – für vier Personen.

„Vielleicht sollten wir ihnen Geld geben?“

Die Familie Yunis möchte also nach Deutschland fliehen. So hat man es den Teilnehmern erklärt. Doch erst einmal müssen sie die nötigen Ausreisepapiere besorgen. An verschiedenen Stationen müssen die Jugendlichen dafür Fragen beantworten: Können Sie Ihre Familie im Ausland versorgen? Warum wollen Sie überhaupt fort? Immer wieder fehlt ein Formular. Die Gruppe wird von Büro zu Büro geschickt, fast zwei Stunden lang. „Vielleicht sollten wir ihnen einfach Geld geben?“, fragt Helen entnervt.

Plötzlich nimmt der Papierkrieg ein Ende – und der echte Krieg bricht über die Teilnehmer herein. Über Lautsprecher sind Schüsse zu hören, Kunstnebel zieht durch die Räume. Eine Gruppe Rebellen hat das Lager überfallen. Nun beginnt die Flucht. Drei „Schlepper“ lotsen die Familie Yunis: Im Gänsemarsch geht es raus aus dem Dorf. Das Oberhaupt voran, die anderen Familienmitglieder hinterher. Die Schlepper verbieten ihnen zu sprechen, schert jemand aus der Reihe aus, wird er zurechtgewiesen. Man bemüht sich, möglichst realistisch zu wirken: Die Gruppe duckt sich unter Gartenzäunen und schleicht an Hecken vorbei, als müsse sie sich tatsächlich vor jemandem verstecken. Die Teilnehmer sollen vergessen, dass sie sich in der sächsischen Provinz befinden. So wird der Wald zur feindlichen Linie, jeder Spaziergänger zum vermeintlichen Rebellen. Als ein Flugzeug am Himmel auftaucht, werfen sich alle in den Graben. „Die somalische Armee! Schnell!“, ruft der „Schlepper“. Erst als die Maschine nicht mehr zu hören ist, dürfen Thomas, Stefan, Helen und Nadia hervorkommen.

Die Passanten wundern sich nicht – die Dorfgemeinschaften wurden in das Planspiel eingeweiht. Als die Schlepper das „Flüchtlingslager“ nicht finden, weist ihnen ein Anwohner sogar den Weg. „Jawoll. Da lang.“ Die Familie Yunis spielt das Spielchen mit, geht artig hintereinander. Ganz ernst nehmen sie es dennoch nicht: Nadia kann sich das Lachen manchmal kaum verkneifen. Denn trotz der Uniformen und Befehle wirken weder Soldaten noch Schlepper wirklich bedrohlich. Oft wirkt Youth on the Run tatsächlich wie ein Spiel. Aber nach acht Kilometern Fußmarsch ist zumindest die Erschöpfung real.

Das Lager heißt „No Hope“

Das Flüchtlingslager heißt stilecht No Hope, zu Essen gibt es Reis mit rauchigem Beigeschmack. Darin: Gurke und Stückchen von Eierschale. Dann rollen sich die Teilnehmer auf ihren Decken zusammen. Kaum haben sie die Augen geschlossen, geht der nächste Alarm los.

„Wir wollen ihnen die Freiheit entziehen, um zu zeigen, was Freiheit bedeutet“, erklärt Caspar Forner. Forner ist pädagogischer Mitarbeiter des Roten Kreuzes, das Youth on the Run in Deutschland anbietet. Außerdem ist er einer von zwei sogenannten Spielleitern, die die Simulation überwachen. „Natürlich hat Youth on the Run keinen Realitätsanspruch“, sagt Forner. „Die Spieler haben ein Netz und einen doppelten Boden – echte Flüchtlinge haben das nicht.“ Aber das Gefühl, ausgeliefert zu sein – diese Erfahrung teilten die Jugendlichen in diesem Spiel mit den Flüchtlingen.

Dennoch: Ist so ein Schreck nachhaltig? Und selbst wenn – verharmlost diese Schocktherapie nicht das Schicksal echter Flüchtlinge?

Thomas, Kopf der „Familie Yunis“, findet, die Stationen des Spiels seien durchaus realistisch: Behördenwillkür, Demütigung, später aufkeimende Hoffnung auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Und bei aller Relativierung: Näher als bei Youth on the Run werden deutsche Jugendliche diesen Gefühlen vermutlich niemals kommen.

Gerade als die UNHCR-Mitarbeiterin verkünden wollte, welche Familie Asyl in Deutschland bekommt, wird das jemenitische Flüchtlingscamp überfallen. Die zweite Flucht beginnt. Immer wieder kreuzen sie Grenzen und Checkpoints. Immer wieder müssen sie Fragen beantworten, auf Kommando hüpfen oder zur Belustigung des Offiziers singen. Irgendwann erreichen sie Deutschland. „Hoffentlich dürfen wir jetzt schlafen“, sagt Stefan leise. Die „Polizei“ nimmt die Flüchtlinge wegen illegaler Einwanderung fest. Gegen halb fünf Uhr morgens, als die vorerst letzte Befragung beendet ist, schlafen die Jugendlichen ein. Im Aufenthaltsraum des DRK Kreisverbandes liegen sie kreuz und quer verteilt. Nadia hat sich ihr Gesicht in die Decke vergraben und hustet leise. Stefan liegt auf dem nackten Boden. Helen trägt ihre Mütze noch auf dem Kopf, und Thomas weiß nicht, wohin mit seinen langen Beinen.

Welchen Nachhall wird diese Erfahrung haben? Und kann sie tatsächlich Rassismus entgegenwirken?

Halbwahrheiten und Naivität

Youth on Run suggeriert, dass Zuflucht verdient, wer auf seiner Flucht durch die Hölle gegangen ist. Ein osteuropäischer Tagelöhner beispielsweise hat aber keine derartige Irrfahrt hinter sich, musste keinen Asylantrag stellen. Verdient er deswegen weniger Recht auf Verständnis und Hilfe? Um solche Unterscheidungen aber geht es an diesem Tag nicht. Auch wie man Migranten im echten Leben begegnet, wird nicht thematisiert.

Stattdessen offenbaren sich Halbwahrheiten und Naivität. Ein Teilnehmer glaubt, Deutschland habe „im letzten Jahr höchstens 300 Flüchtlinge aufgenommen“. Ein anderer sagt, er finde, Flüchtlinge sollten schon Asyl bekommen. „Aber natürlich nur die, die sich integrieren.“ Doch Integration kommt nicht mit dem Stempel im Pass. Integration erfordert Toleranz, Solidarität und ein wirkliches Miteinander. Alles Dinge, die sich nicht simulieren lassen.

„Es ist schon gut, Mitgefühl zu entwickeln“, sagt Helen, als das Planspiel nach 24 Stunden abrupt beendet ist. „Aber wenn ich das nächste Mal Freizeit habe, helfe ich lieber in einem richtigen Asylbewerberheim. Das hat mehr Effekt.“

Erschienen in DIE ZEIT